Der Fischhof-Preis der GRA und GMS 2016 geht an Amira Hafner-Al Jabaji, Publizistin, Islamwissenschaftlerin und Moderatorin der «Sternstunde Religion», sowie an Samuel Althof, Extremismusexperte.
13.07.2016

Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben, unterstützt vom Sigi und Evi Feigel-Fonds, zum 13. Mal den mit insgesamt 50’000 Franken dotierten Fischhof-Preis an Persönlichkeiten, die sich durch ihre Haltung und Taten für die Rechte von Minderheiten, Respekt, Aufklärung und im Kampf gegen Rassismus verdient gemacht haben. Diesmal werden zwei Personen ausgezeichnet, die sich seit Jahrzehnten für Themen eingesetzt haben, welche in der heutigen Zeit aufgrund von Migrationsströmen, Ängsten in der Bevölkerung und friedensgefährdenden Aktivitäten von besonderer Bedeutung sind.

Frau Amira Hafner-Al Jabaji wurde 1971 als Tochter eines Irakers und einer Deutschen in Bern geboren. Nach dem Studium von Islamwissenschaften, neuer vorderorientalischer Philologie und Medienwissenschaften an der Universität Bern arbeitete sie als freie Journalistin. Gleichzeitig engagierte sie sich in zahlreichen Gremien zu den Themen Integration und zu Fragen des interkulturellen Zusammenlebens, so zum Beispiel in der Fachkommission Integration des Kantons Solothurn. Von 2005 bis 2013 war Frau Hafner-Al Jabaji Mitglied im Publikumsrat der SRG Deutschschweiz und seit Februar 2015 ist sie Moderatorin der Sendung «Sternstunde Religion» beim Schweizer Fernsehen. 2008 war sie Mitbegründerin des heute von ihr präsidierten «Interreligiösen Think-Tanks»; daneben ist Frau Hafner-Al Jabaji freiberuflich als Referentin und Publizistin in den Bereichen Islam, Muslime in der Schweiz und interreligiöser Dialog mit besonderer Berücksichtigung der Genderperspektive tätig. 2011 wurde sie mit dem Anna-Göldi-Preis für den Dialog zwischen den Religionen ausgezeichnet.

GRA und GMS würdigen mit der Auszeichnung Amira Hafner-Al Jabajis langjährigen Beitrag für ein friedliches Zusammenleben mit und für die Wissensvermittlung an Menschen muslimischen Glaubens in der Schweiz über die hiesigen Gepflogenheiten.

Herr Samuel Althof wurde 1955 in Basel geboren. Er ist psychologischer Berater und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Extremismus – linker, rechter und religiöser Ausprägung. Er führt in Basel die private Fachstelle für Extremismus- und Gewaltprävention Fexx, die aus der «Aktion Kinder des Holocaust» hervorging. Herr Althof arbeitet seit vielen Jahren mit Personen aus den rechts- und linksextremen Szenen und seit jüngerer Zeit auch mit Muslimen, die extreme Tendenzen zeigen und sich zunehmend radikalisieren.
Er hilft beispielsweise jungen Rechtsradikalen, aus der Szene auszusteigen und berät Betroffene und deren Familien. Seine Tätigkeiten umfassen auch die Beobachtung sogenannter „Djihadisten“ in der Schweiz und er berät Angehörige in deren Umfeld.
GRA und GMS ehren Samuel Althof mit dem Fischhof-Preis für seinen jahrzehntelangen unermüdlichen Einsatz in einem gefährlichen Randgebiet der Gesellschaft, sowie für seinen Mut und sein Können im Spannungsfeld zwischen friedlicher Koexistenz in einer offenen Gesellschaft und gefährlichem Extremismus jeglicher Ausprägung.

Die Preisverleihung findet am 31. Oktober 2016 in Zürich statt.

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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