GMS-Standpunkt: Weihnachtslieder und Religiöse Freiheit
14.06.2018

Im Dezember 2016 verweigerte ein muslimischer Vater seinen Kindern die Teilnahme an einer Singprobe von Weihnachtsliedern in einer Kirche. Dafür wurde er mit einem Strafbefehl gebüsst, gegen den er sich vor der nächsthöheren Instanz, dem Bezirksgericht, ohne Erfolg zur Wehr setzte.

Im Januar dieses Jahres machte eine Meldung die Runde durch die Medien, dass ein muslimischer Vater gebüsst worden sei, weil er nicht wollte, dass seine Kinder vor Weihnachten in einer Kirche Weihnachtslieder singen müssen.

Ein vom Vater der drei Kinder im Alter von 5 bis 8 Jahren zuvor eingereichtes Dispensgesuch war von der offenbar einigermassen unsensiblen Schulbehörde abgelehnt worden.

Das Bezirksgericht Dietikon, welches vom Vater angerufen worden war, hielt an einer Busse von Fr. 500.- fest. Da der Vater den Weiterzug ankündigte, ist das Verfahren derzeit hängig.

Die Nachricht wurde zwar von den Medien recht breit aufgenommen und referiert, die Kommentare hielten sich aber „bedeckt“.

Die ganze Angelegenheit wirft ganz grundsätzliche Fragen auf, weshalb sie – trotz hängigem Verfahren – an dieser Stelle aufgenommen werden sollen.

Hier wurden Kinder verpflichtet, gegen den Willen ihrer Eltern in einem offenbar religiösen Kontext in der Kirche religiöse Lieder zu singen. Ist das mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit vereinbar? Es wird, wenn vielleicht auch nur indirekt, verlangt, ein Bekenntnis abzulegen, das einzufordern nicht zulässig ist. Auch wenn das Christentum in unserem Land die Religion ist, welcher die Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger angehören, heisst das noch lange nicht, dass Angehörige der Minderheitsreligionen – noch dazu per Strafbefehl – dazu gezwungen werden können, Weihnachts- oder Kirchenlieder in einem religiösen Kontext vorzusingen.

Religion soll durchaus ein Thema in der Schule sein. Im Kanton Zürich z.B. will das Fach „Religion und Kultur“ Kenntnisse verschiedener Religionen als Teil der Kultur vermitteln. Dies gehört zur Allgemeinbildung und fördert das Verständnis für die heutige Welt. Die Weltanschauungen und Einstellungen von Eltern und Kindern müssen dabei aber respektiert werden. Religiöse Handlungen sind in der Schule deshalb nicht zulässig. Die religiöse Erziehung der Kinder muss in der Verantwortung der Eltern bleiben. Diese bewährten Grundsätze scheinen
hier nicht befolgt worden zu sein.

Die Teilnahmepflicht ist deshalb absolut unverständlich, nicht akzeptabel und nicht hinzunehmen. Während die Diskussion über den „Schwimmunterricht“ allenfalls mit den in unserem Land (noch) üblichen Gepflogenheiten diskussionswürdig sein kann, ist es das Singen von (Kirchen-) Liedern in einer Kirche keinesfalls. Soweit und solange Angehörige von Minderheitsreligionen sich aus eigenen Stücken an diesem Unterrichtsteil beteiligen mögen, sei ihnen das unbenommen. Sobald aber ein Kind von Angehörigen einer Minderheitsreligion bzw. deren gesetzliche Vertreter diese Teilnahme verweigern, ist dieses Kind vom Unterricht in der Kirche zu dispensieren. Alles andere widerspricht der von der Bundesverfassung garantierten Religionsfreiheit. Gleiches gilt natürlich auch für Kinder aus Familien die – aus welchen Gründen auch immer – der Kirche nicht oder nicht mehr angehören. Sich also nicht einer christlichen Denomination zugehörig fühlen. Man mag das bedauern, aber die Freiheit der Wahl (oder eben auch „Nichtwahl“) der Religion ist ein hohes Gut, dass es unbedingt zu wahren
gilt.

Ob der Entscheid des Bezirksgerichts formaljuristisch korrekt gewesen ist, wie der betreffende Richter festhielt, hat das Obergericht zu entscheiden. Staatspolitisch ist er aber in jedem Fall fragwürdig. Die Religionsfreiheit, wie sie die Bundesverfassung garantiert, verbietet, jemanden zu religiösen Handlungen oder Bekenntnissen zu zwingen. Jeglicher diesbezügliche Zwang ist ganz grundsätzlich abzulehnen.


Zu weiteren GMS-Standpunkten: https://www.gms-minderheiten.ch/oeffentlichkeitsarbeit/standpunkte/

Die GMS als wachsame Beobachterin meldet sich mit Stellungnahmen zu Minderheiten- und Grundrechtsfragen zu Wort. Sie möchte sensibilisieren, zur Meinungsbildung beintragen und deshalb auch zum Widerspruch herausfordern.

Möchten Sie den GMS-Standpunkt erhalten, dann senden Sie uns bitte eine E-Mail an: infogms@gra.ch. Herzlichen Dank für Ihr Interesse!

 

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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