Medienmitteilung: Der Fischhof-Preis der GRA und GMS 2016
01.11.2016

Zürich, 31. Oktober 2016 – Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz, unterstützt vom Sigi und Evi Feigel-Fonds, ehren mit der Verleihung des Nanny und Erich-Fischhofpreises 2016 zwei Persönlichkeiten, die sich seit vielen Jahren in besonderer Art für Rassismusprävention und Toleranz einsetzen. Dies ist in der heutigen Zeit und in Zusammenhang mit Migrationsströmen, Ängsten vor Zuwanderung in der Bevölkerung und (rechts-)extremistischen Aktivitäten von besonderer Bedeutung.

Frau Amira Hafner-Al Jabaji, seit Februar 2015 Moderatorin der Sendung «Sternstunde Religion», gilt als «feste Grösse im Schweizer Fernsehen, wenn es um islamische Fragen geht», so ihre Laudatorin, Brigitta Rotach. «Sie will aber nicht nur dann vom Islam sprechen, wenn es ein Problem gibt. Sie fordert seit Jahren, dass Muslime und Musliminnen zu ganz verschiedenen gesellschaftlich aktuellen oder ethischen Fragen in die Debatten einbezogen werden sollten», so die Laudatorin weiter. Amira Hafner-Al Jabaji lebt die Spannung zwischen Mehrheitskultur und Minderheitenreligion unmittelbar vor und ist damit zu einem Sinnbild für den vorurteilsfreien Umgang mit Musliminnen und Muslimen in der Schweiz geworden. GRA und GMS würdigen mit der Auszeichnung Amira Hafner-Al Jabajis langjähriges Engagement für ein besseres Verständnis des Islams in der Schweiz und für einen respektvollen Dialog unter den Religionen.

Herr Samuel Althof Kessler wurde 1955 in Basel geboren. Er ist psychologischer Berater und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Extremismus – linker, rechter und religiöser Ausprägung. Er führt in Basel die private Fachstelle für Extremismus- und Gewaltprävention Fexx, die aus der «Aktion Kinder des Holocaust» hervorging. Herr Althof arbeitet seit vielen Jahren mit Personen aus den rechts- und linksextremen Szenen. Er berät Betroffene und deren Familien und hilft beispielsweise jungen Rechtsradikalen, aus der Szene auszusteigen. Seit einiger Zeit arbeitet Herr Althof auch mit Musliminnen und Muslimen, die extreme Tendenzen zeigen und sich zunehmend radikalisieren. GRA und GMS ehren Samuel Althof Kessler mit dem Fischhof-Preis für seinen jahrzehntelangen unermüdlichen Einsatz in einem gefährlichen Randgebiet der Gesellschaft, sowie für seinen Mut und sein Können im Spannungsfeld zwischen friedlicher Koexistenz in einer offenen Gesellschaft und gefährlichem Extremismus jeglicher Ausprägung.

Der Nanny und Erich Fischhof-Preis in der Höhe von CHF 25‘000 pro Preisträger wird an Persönlichkeiten oder Institutionen verliehen, die sich in der Bekämpfung von Rassismus im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen in der Schweiz verdient gemacht haben. Nanny Fischhof-Barth sel. (1901-1997) stiftete den Preis in Erinnerung an ihre Schwester, die durch Heirat mit einem Belgier den Schweizer Pass verlor, nicht mehr in ihre Heimat eingelassen und so als Jüdin durch die Nazis ermordet wurde. Gleichzeitig war sie dankbar, dass ein österreichischer Jude im Krieg in der Schweiz aufgenommen und so später ihr Ehemann wurde.

Für weitere Fragen:

Dr. Ronnie Bernheim
Präsident GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
T +41 (0)79 662 66 50

Dr. Markus Notter
Präsident Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz
T +41 (0)79 623 18 53

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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