Kommunal Magazin-Beitrag v. September 2008
Plätze für Fahrende – Pflicht der Gemeinde
Früher konnten sie überall an Waldrändern halten und auf mancher Wiese, wenn der Bauer wohlgesinnt war oder etwas Geld brauchte. Den Fahrenden in der Schweiz sind die Möglichkeiten zum spontanen Halt heute genommen. Trotz erschwerten Bedingungen steigt aber die Zahl Junger, die wieder im Wohnwagen Geschäften nachgehen wollen und damit ihre Familie ernähren. Es sind nicht nur ein paar Ewiggestrige, die diese Lebensweise pflegen. Campingplätze bleiben fahrenden Familien meist verschlossen, da darauf keinem Gewerbe nachgegangen werden darf, verursacht ein solches doch meist etwas Lärm und Betrieb.
Es braucht neue Plätze
In einer ganzen Reihe Kantone sind derzeit Projekte für Plätze in Diskussion, was erfreulich ist. In anderen Kantonen herrscht allerdings noch Funkstille. In jedem Falle braucht es aufgeschlossene Gemeinden. Es ist unbestritten, dass es neue Plätze für Fahrende braucht, damit sie ihren Lebensunterhalt durch die Ausübung ihrer Gewerbe verdienen können und damit ihre Kultur nicht ausgelöscht wird. Im Vordergrund stehen die lokalen fahrenden und gewerbetreibenden Jenischen und Sinti. Die Stiftung „Zukunft für Schweizer Fahrende“ hat vor einiger Zeit die Schaffung von Stand- und Durchgangsplätzen gefordert als Sicherung des Lebensraums für sie. Gemeinden sind zurückhaltend damit. Mit Plätzen für Fahrende lassen sich nicht im voraus politische Loorbeeren gewinnen. Es bestehen einerseits Vorurteile, anderseits reale negative Erfahrungen, allerdings nicht mit den einheimischen Gruppen. Die Berichte über Verschmutzungen und Zerstörungen auf dem Flugplatzareal in Raron im Wallis durch französische Fahrende und auf dem grenznahen Durchgangsplatz bei Rheinfelden haben das Ihre zur schlechten Stimmung beigetragen. Worüber sich die seit Jahrzehnten in der Schweiz lebenden Fahrenden am meisten ärgern.
Die Fahrenden als nationale Minderheit anerkannt
Doch die Fahrenden gehören zum Leben und zur Kultur dieses Landes. Die Schweiz hat die schweizerischen Fahrenden als nationale Minderheit anerkannt mit der Ratifizierung des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten. Damit hat sie sich verpflichtet, die Lebensgrundlagen der fahrenden Bevölkerung zu sichern. Die Schweiz hat darüber hinaus, was weniger bekannt ist, die Sprache der jenischen Fahrenden als territorial nicht gebundene Sprache der Schweiz anerkannt, mit der Ratifizierung der Europäischen Sprachencharta, und damit erneut ein Bekenntnis zu dieser Kultur abgegeben. Daraus erwächst Kantonen und Gemeinden die Pflicht, den Fahrenden Stand- und Durchgangsplätze anzubieten und ihren Kindern den Schulunterricht zu ermöglichen. Wie dies auch aus einem Urteil des Bundesgerichts vom 28. März 2003 hervorgeht (BGE 129 II 321, veröffentlicht auf Deutsch auch in der Praxis des Bundesgerichts 2004/52/2631).
Es geht um einheimische Familien von Jenischen und Sinti
In der Praxis bilden hauptsächlich Familien von Jenischen die lokalen fahrenden Gewerbetreibenden, – deren Sprache Schweizerdeutsch oder Französisch sowie das Jenische ist. Hinzu kommen einige Familien von Sinti, die deutsch oder französisch sowie die Sintosprache sprechen. Weil die Familien sich kennen und weil viele Gemeinden jene Familien kennen, die auf ihrem Gebiet zu halten pflegen, kann sich ein Vertrauen und damit eine gegenseitige Sicherheit entwickeln. Unter den Schweizer Fahrenden finden sich keine Roma, die in der Schweiz zwar sehr zahlreich leben, aber praktisch ausschliesslich als Sesshafte in Wohnungen. Fahrende mit Schweizer Pass zahlen hier Steuern, leisten Militärdienst und entrichten an jedem Halt auf Stand- oder Durchgangsplätzen Miete. Zudem lösen sie für die Ausübung ihrer Arbeit ein Patent. Sie haben grundsätzlich die gleichen Pflichten wie jede Schweizer Bürgerin und Bürger und damit auch Anrecht auf Leistungen, die ihnen zu leben und arbeiten ermöglichen.
Lösbare Aufgabe
Die Probleme um solche Plätze werden übertrieben. Die Gemeinden können jedenfalls die Situation beruhigen, wenn sie selber klar zu ihrer Verpflichtung dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber stehen. Ordnung und Sauberkeit ist für die lokalen Fahrenden – etwa im gleichen Mass wie für ansässige Sesshafte – selbstverständlich, da sie auf den Plätzen ein Geschäft aufbauen und wiederkommen wollen. Sie sind schon wirtschaftlich daran interessiert, um sich ihren besonderen eigenen Markt zu erhalten. Das gegenseitige Vertrauen wird gefestigt, indem sich die Fahrenden auf der Gemeinde anmelden und eine Kaution hinterlegen, was unbürokratisch vor sich gehen kann. Man lernt sich so mit der Zeit auch kennen und stellt vielleicht bald einmal fest, dass die anderen auch bloss Menschen mit Stärken und Schwächen sind. Das entscheidende Hindernis in der Realisierung von Plätzen sind erfahrungsgemäss nicht rechtliche, technische oder finanzielle Probleme, sondern der mangelnde politische Wille. Die technischen und rechtlichen Probleme zur Schaffung von Plätzen sind lösbar. So ist wenig bekannt, dass Plätze für einheimische Gewerbetreibende und Händler in Wohnwagen wenig Fläche brauchen. Sie können für 6 bis 10 Wohnwagen ausgelegt sein. Lieber eine Anzahl an verschiedenen Orten schaffen als einige wenige Ghettosituationen mit viel Fläche. Kleinere Plätze sind auch besser kontrollierbar. Zudem ist der Aufwand für Installation und Unterhalt geringer, als oft gemeint wird. Es braucht Stromanschluss, Wasser und Toiletten, wie sie heute auf jeder Baustelle gang und gäbe sind. Der Gemeindewerkhof oder eine Werkgruppe kann ohne grossen Aufwand auch diese Plätze unterhalten und entsorgen. Es braucht auf jeden Fall keine Luxuslösungen oder Standplätze mit Bebauungen. Für Stand- und Durchgangsplätze sind im Rahmen der Gesetzgebung zur Raumplanung Ausnahmebewilligungen ausserhalb der Bauzonen möglich, weil der Zweck der Anlagen dies erfordert und wenn keine überwiegende Interessen dem Standort entgegenstehen (Raumplanungsgesetz Art. 24).
Ermunternde Beispiele
Mit entsprechendem Willen finden die Gemeinden ein geeignetes freies Areal. Das Entstehen von Missstimmung in der Gemeindebevölkerung lässt sich durch rechtzeitige sachliche Orientierung und ruhiger klarer Haltung des Gemeindevorstandes verhindern. So lässt sich nötigenfalls auch eine Volksabstimmung erfolgreich über die Bühne bringen. Am einen oder anderen Ort können auch bestehende Kilbiplätze den einheimischen Fahrenden geöffnet werden. Dass Plätze problemlos betrieben werden können, zeigen aktuelle Beispiele. Bekannt ist Bonaduz, wo dank eines mitreissenden Gemeindepräsidenten ein Durchgangsplatz geschaffen wurde, noch bevor die rechtliche Verpflichtung bestand und der auch problemlos verlegt werden konnte als ein Strassenprojekt dies notwendig machte. Auf stille Art und Weise gewährt Adliswil einer Gruppe von Fahrenden seit Jahr und Tag einen Standplatz, und diese revanchiert sich, indem sie in ihrem Festzelt Vereinen in der Gemeinde gelegentlich Gastrecht bietet. Sehr zufrieden äussern sich die Fahrenden ebenfalls über den kleinen Standplatz in Liestal. Die Schaffung von Plätzen für die Pulks von Transitfahrenden, die mit 50 oder auch mehr Wagen das Land durchqueren und sich wenig für die lokalen Märkte und die lokalen Gegebenheiten interessieren, ist vor allem eine Aufgabe von Bund und Kantonen. Hier braucht es einige gut erreichbare Plätze im Land, möglichst entlang von Autobahnen.
GMS als Gesprächspartnerin und Vermittlerin
Die Gesellschaft Minderheiten hat sich vorgenommen, ein Augenmerk auf die Durchsetzung der Grundrechte unserer nationalen Minderheiten zu werfen, zu denen die Fahrenden gehören. Wir plädieren für Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Lebensweisen und sind gern bereit, unsere Dienste als Gesprächspartner oder Vermittler den Gemeinden anzubieten.
Dr. Giusep Nay Willi Wottreng
Präsident GMS Vorstandsmitglied
Anmerkung: In diesem Artikel wurde der Begriff Fahrende für die Gemeinschaften der Jenische, Sinti und Roma genutzt. Dieser ist veraltet und wurde von den Gemeinschaften abgelehnt, da er sie nicht als nationale Minderheit anerkennt und Diskriminierung als Problem erkennt. Die Selbstbezeichnung Jenische, Sinti und Roma ist korrekt.
Die GMS engagiert sich im Trägerverein des Schweizer Memorials
Was ist das Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus?
Mit dem Schweizer Memorial wird den unterschiedlichsten Opfern des Nationalsozialismus gedenkt. Es versteht sich als Erinnerungsort, Vermittlungsort und Netzwerk in einem.
Seit der Bundesrat im April 2023 entschieden hat, einen Erinnerungsort mit 2,5 Millionen Franken zu errichten, haben, unter Federführung des Eidgenössische Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Vertreter:innen der Stadt Bern, des Schweizerisches Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und des Archivs für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit Fachpersonen intensiv am Projekt gearbeitet und dessen Strukturen aufgebaut und gefestigt.
Der Erinnerungsort ist heute auf der Casinoterrasse in Bern geplant, das «Vermittlungszentrum Flucht» in Diepoldsau.
Ein Trägerverein für das Schweizer Memorial
Seit 2025 gibt es neben des Netzwerkvereins auch den Trägerverein. Ihm obliegt die langfristige Verantwortung für den Erinnerungsort in Bern – insbesondere für dessen Betrieb, Pflege, Sicherheit und dessen Weiterentwicklung. Später kann der Trägerverein eine entsprechen Rolle für das geplante «Vermittlungszentrum Flucht» im St. Galler Rheintal übernehmen. Der Verein versteht sich als Bindeglied zwischen Zivilgesellschaft, Fachwelt und Behörden. Neben dem SIG und dem AfZ ist auch die GMS Mitgründerin des Trägervereins.
Die GMS engagiert sich für ein inklusives, zukunftsgerichtetes Gedenken und bringt ihre
Perspektive auf Minderheitenrechte und Erinnerungskultur ein.
Webseite des Schweizer Memorials
Medienmitteilung Wettbewerbslancierung