Plätze für Fahrende – Pflicht der Gemeinde

Früher konnten sie überall an Waldrändern halten und auf mancher Wiese, wenn der Bauer wohlgesinnt war oder etwas Geld brauchte. Den Fahrenden in der Schweiz sind die Möglichkeiten zum spontanen Halt heute genommen. Trotz erschwerten Bedingungen steigt aber die Zahl Junger, die wieder im Wohnwagen Geschäften nachgehen wollen und damit ihre Familie ernähren. Es sind nicht nur ein paar Ewiggestrige, die diese Lebensweise pflegen. Campingplätze bleiben fahrenden Familien meist verschlossen, da darauf keinem Gewerbe nachgegangen werden darf, verursacht ein solches doch meist etwas Lärm und Betrieb.

Es braucht neue Plätze

In einer ganzen Reihe Kantone sind derzeit Projekte für Plätze in Diskussion, was erfreulich ist. In anderen Kantonen herrscht allerdings noch Funkstille. In jedem Falle braucht es aufgeschlossene Gemeinden. Es ist unbestritten, dass es neue Plätze für Fahrende braucht, damit sie ihren Lebensunterhalt durch die Ausübung ihrer Gewerbe verdienen können und damit ihre Kultur nicht ausgelöscht wird. Im Vordergrund stehen die lokalen fahrenden und gewerbetreibenden Jenischen und Sinti.  Die Stiftung „Zukunft für Schweizer Fahrende“ hat vor einiger Zeit die Schaffung von Stand- und Durchgangsplätzen gefordert als Sicherung des Lebensraums für sie. Gemeinden sind zurückhaltend damit. Mit Plätzen für Fahrende lassen sich nicht im voraus politische Loorbeeren gewinnen. Es bestehen einerseits Vorurteile, anderseits reale negative Erfahrungen, allerdings nicht mit den einheimischen Gruppen. Die Berichte über Verschmutzungen und Zerstörungen auf dem Flugplatzareal in Raron im Wallis durch französische Fahrende und auf dem grenznahen Durchgangsplatz bei Rheinfelden haben das Ihre zur schlechten Stimmung beigetragen. Worüber sich die seit Jahrzehnten in der Schweiz lebenden Fahrenden am meisten ärgern.

Die Fahrenden als nationale Minderheit anerkannt

Doch die Fahrenden gehören zum Leben und zur Kultur dieses Landes. Die Schweiz hat die schweizerischen Fahrenden als nationale Minderheit anerkannt mit der Ratifizierung des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten. Damit hat sie sich verpflichtet, die Lebensgrundlagen der fahrenden Bevölkerung zu sichern. Die Schweiz hat darüber hinaus, was weniger bekannt ist, die Sprache der jenischen Fahrenden als territorial nicht gebundene Sprache der Schweiz anerkannt, mit der Ratifizierung der Europäischen Sprachencharta, und damit erneut ein Bekenntnis zu dieser Kultur abgegeben. Daraus erwächst Kantonen und Gemeinden die Pflicht, den Fahrenden Stand- und Durchgangsplätze anzubieten und ihren Kindern den Schulunterricht zu ermöglichen. Wie dies auch aus einem Urteil des Bundesgerichts vom 28. März 2003 hervorgeht (BGE 129 II 321, veröffentlicht auf Deutsch auch in der Praxis des Bundesgerichts 2004/52/2631).

Es geht um einheimische Familien von Jenischen und Sinti

In der Praxis bilden hauptsächlich Familien von Jenischen die lokalen fahrenden Gewerbetreibenden, – deren Sprache Schweizerdeutsch oder Französisch sowie das Jenische ist. Hinzu kommen einige Familien von Sinti, die deutsch oder französisch sowie die Sintosprache sprechen. Weil die Familien sich kennen und weil viele Gemeinden jene Familien kennen, die auf ihrem Gebiet zu halten pflegen, kann sich ein Vertrauen und damit eine gegenseitige Sicherheit entwickeln. Unter den Schweizer Fahrenden finden sich keine Roma, die in der Schweiz zwar sehr zahlreich leben, aber praktisch ausschliesslich als Sesshafte in Wohnungen. Fahrende mit Schweizer Pass zahlen hier Steuern, leisten Militärdienst und entrichten an jedem Halt auf Stand- oder Durchgangsplätzen Miete. Zudem lösen sie für die Ausübung ihrer Arbeit ein Patent. Sie haben grundsätzlich die gleichen Pflichten wie jede Schweizer Bürgerin und Bürger und damit auch Anrecht auf Leistungen, die ihnen zu leben und arbeiten ermöglichen.

Lösbare Aufgabe

Die Probleme um solche Plätze werden übertrieben. Die Gemeinden können jedenfalls die Situation beruhigen, wenn sie selber klar zu ihrer Verpflichtung dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber stehen. Ordnung und Sauberkeit ist für die lokalen Fahrenden – etwa im gleichen Mass wie für ansässige Sesshafte – selbstverständlich, da sie auf den Plätzen ein Geschäft aufbauen und wiederkommen wollen. Sie sind schon wirtschaftlich daran interessiert, um sich ihren besonderen eigenen Markt zu erhalten. Das gegenseitige Vertrauen wird gefestigt, indem sich die Fahrenden auf der Gemeinde anmelden und eine Kaution hinterlegen, was unbürokratisch vor sich gehen kann. Man lernt sich so mit der Zeit auch kennen und stellt vielleicht bald einmal fest, dass die anderen auch bloss Menschen mit Stärken und Schwächen sind. Das entscheidende Hindernis in der Realisierung von Plätzen sind erfahrungsgemäss nicht rechtliche, technische oder finanzielle Probleme, sondern der mangelnde politische Wille. Die technischen und rechtlichen Probleme zur Schaffung von Plätzen sind lösbar. So ist wenig bekannt, dass Plätze für einheimische Gewerbetreibende und Händler in Wohnwagen wenig Fläche brauchen. Sie können für 6 bis 10 Wohnwagen ausgelegt sein. Lieber eine Anzahl an verschiedenen Orten schaffen als einige wenige Ghettosituationen mit viel Fläche. Kleinere Plätze sind auch besser kontrollierbar. Zudem ist der Aufwand für Installation und Unterhalt geringer, als oft gemeint wird. Es braucht Stromanschluss, Wasser und Toiletten, wie sie heute auf jeder Baustelle gang und gäbe sind. Der Gemeindewerkhof oder eine Werkgruppe kann ohne grossen Aufwand auch diese Plätze unterhalten und entsorgen. Es braucht auf jeden Fall keine Luxuslösungen oder Standplätze mit Bebauungen. Für Stand- und Durchgangsplätze sind im Rahmen der Gesetzgebung zur Raumplanung Ausnahmebewilligungen ausserhalb der Bauzonen möglich, weil der Zweck der Anlagen dies erfordert und wenn keine überwiegende Interessen dem Standort entgegenstehen (Raumplanungsgesetz Art. 24).

Ermunternde Beispiele

Mit entsprechendem Willen finden die Gemeinden ein geeignetes freies Areal. Das Entstehen von Missstimmung in der Gemeindebevölkerung lässt sich durch rechtzeitige sachliche Orientierung und ruhiger klarer Haltung des Gemeindevorstandes verhindern. So lässt sich nötigenfalls auch eine Volksabstimmung erfolgreich über die Bühne bringen. Am einen oder anderen Ort können auch bestehende Kilbiplätze den einheimischen Fahrenden geöffnet werden. Dass Plätze problemlos betrieben werden können, zeigen aktuelle Beispiele. Bekannt ist Bonaduz, wo dank eines mitreissenden Gemeindepräsidenten ein Durchgangsplatz geschaffen wurde, noch bevor die rechtliche Verpflichtung bestand und der auch problemlos verlegt werden konnte als ein Strassenprojekt dies notwendig machte. Auf stille Art und Weise gewährt Adliswil einer Gruppe von Fahrenden seit Jahr und Tag einen Standplatz, und diese revanchiert sich, indem sie in ihrem Festzelt Vereinen in der Gemeinde gelegentlich Gastrecht bietet. Sehr zufrieden äussern sich die Fahrenden ebenfalls über den kleinen Standplatz in Liestal. Die Schaffung von Plätzen für die Pulks von Transitfahrenden, die mit 50 oder auch mehr Wagen das Land durchqueren und sich wenig für die lokalen Märkte und die lokalen Gegebenheiten interessieren, ist vor allem eine Aufgabe von Bund und Kantonen. Hier braucht es einige gut erreichbare Plätze im Land, möglichst entlang von Autobahnen.

GMS als Gesprächspartnerin und Vermittlerin

Die Gesellschaft Minderheiten hat sich vorgenommen, ein Augenmerk auf die Durchsetzung der Grundrechte unserer nationalen Minderheiten zu werfen, zu denen die Fahrenden gehören. Wir plädieren für Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Lebensweisen und sind gern bereit, unsere Dienste als Gesprächspartner oder Vermittler den Gemeinden anzubieten.

Dr. Giusep Nay                                             Willi Wottreng

Präsident GMS                                             Vorstandsmitglied

Anmerkung: In diesem Artikel wurde der Begriff Fahrende für die Gemeinschaften der Jenische, Sinti und Roma genutzt. Dieser ist veraltet und wurde von den Gemeinschaften abgelehnt, da er sie nicht als nationale Minderheit anerkennt und Diskriminierung als Problem erkennt. Die Selbstbezeichnung Jenische, Sinti und Roma ist korrekt.

27.03.2024

Gehörlose Menschen – eine sprachliche und kulturelle Minderheit in der Schweiz

Sprachen sind keine „Behinderung“

Der Vorstand der Gesellschaft für Minderheiten in der Schweiz (GMS) hat beschlossen, den Minderheitenbegriff zu erweitern, um auch hybride Identitäten von Minderheiten zu berücksichtigen. Diese Entscheidung reflektiert die zunehmende Vielfalt und Komplexität der menschlichen Identität. Angesichts dessen ist es für die GMS als Verein, der sich für die Rechte und den Schutz von Minderheiten in der Schweiz einsetzt, unerlässlich, dass auch die Gehörlosengemeinschaft von der GMS-Unterstützung erhält.

Für die Gehörlosengemeinschaft ist es von grosser Bedeutung, dass Gehörlosigkeit nicht länger als «Behinderung» betrachtet wird, sondern dass Gehörlose als eine sprachliche und kulturelle Minderheit anerkannt und respektiert werden. Gehörlose und hörende Menschen haben jedoch noch immer eine stark voneinander abweichende Vorstellung von Gehörlosigkeit. So impliziert Gehörlosigkeit für die Mehrheit der Hörenden ein Defizit, welches zu beseitigen ist. Die meisten gehörlosen Menschen hingegen fühlen sich als Mitglied einer kulturellen Minderheit mit eigener Kultur und Sprache, nämlich der Gebärdensprache.

Weltweit leben ca. 70 Millionen gehörlose Menschen, davon 20’000 bis 30’000 in der Schweiz. Die Gehörlosengemeinschaft ist eine sprachliche und kulturelle Minderheit. Das Fundament dieser Kultur sind die Gebärdensprachen, welche untrennbar mit der kulturellen Identität der Gehörlosengemeinschaft verbunden sind. In der Schweiz gibt es insgesamt drei Gebärdensprachen: Die Deutschschweizer Gebärdensprache (DSGS), die Langue des Signes Française (LSF) und die Lingua Italiana dei Segni (LIS). Um mit einem weitverbreiteten Vorurteil aufzuräumen: Die Gebärdensprache ist nicht international, da Sprachen sich regional entwickeln und von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Wie jede andere Sprache, haben sich auch Gebärdensprachen natürlich weiterentwickelt. Deshalb hat jedes Land seine eigene Gebärdensprache(n), die sogar regionale Dialekte aufweisen kann, ähnlich den Variationen in gesprochenen Sprachen. Die Gebärdensprache war jedoch lange Zeit verboten. Beim sogenannten Mailänder Kongress im Jahr 1880 trafen hörende Pädagog:innen die Entscheidung, die Verwendung der Gebärdensprache in Europa zu untersagen. Anstatt gehörlosen Schüler:innen Wissen und Bildung zu vermitteln, konzentrierten sich die Lehrkräfte darauf, ihnen das Sprechen beizubringen. Dies oft unter inakzeptablen Bedingungen: Gehörlosen Kindern wurde es z.B. verboten, miteinander in Gebärdensprache zu kommunizieren. Im Unterricht wurden sie unter anderem dazu aufgefordert, sich auf ihre Hände zu setzen oder diese hinter den Rücken zu halten. Die Gebärdensprache konnte somit meist nur im Verborgenen angewendet und weiterentwickelt werden. Um ca. 1980 begann sich langsam auch in der Schweiz die Erkenntnis durchzusetzen, dass Gebärdensprache ein eigenständiges und vollwertiges Sprachsystem ist, mit dem gehörlose Menschen alles ausdrücken und mitteilen können. Jedoch erst im Juli 2010, auf der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver, wurde der Beschluss gefasst, die Resolutionen des Mailänder Kongresses von 1880 offiziell aufzuheben.

Am 22. August 2023 wurde vom Bundesamt für Kultur bekannt gegeben, dass die Schweiz die Gebärdensprachen als immaterielles Kulturerbe anerkannt und in die Liste der lebendigen Traditionen des Landes aufgenommen hat. Die Gebärdensprachen müssen jedoch endlich auch rechtlich anerkannt werden, denn sie ermöglichen gehörlosen Personen den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitswesen, zur Kultur sowie zu Bildungsangeboten. Dieser Zugang muss gehörlosen Menschen durch Bund, Kantone und Gemeinden im Rahmen ihrer Kompetenzen garantiert werden, wie es auch die UNO-Behindertenrechtskonvention und das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung verlangen. Die fehlende Anerkennung der Gebärdensprachen steht im Widerspruch zur UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Darin werden die Gebärdensprachen als eigenständige Sprache definiert und die unterzeichnenden Staaten verpflichtet, die Gebärdensprachen und die Gehörlosenkultur anzuerkennen.

Die Schweiz ist eines der letzten Länder in Europa, welches seine Gebärdensprachen nicht auf nationaler Ebene anerkannt hat. Auf kantonaler Ebene sind die Gebärdensprachen in Genf, Zürich und dem Tessin in den jeweiligen Kantonsverfassungen erwähnt. Der Kanton Neuchâtel kennt die Anerkennung auf Gesetzesstufe.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gebärdensprachen durch die Einführung eines Gebärdensprachengesetzes offiziell anerkannt und gefördert werden. Dies stellt einen unerlässlichen Schritt dar, um die Gebärdensprachen zu legitimieren und die Lebenssituation gehörloser Menschen in der Schweiz nachhaltig und wirksam zu verbessern.

Denn: Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen!

 

Dr. Tatjana Binggeli (gehörlos)
Geschäftsführerin Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS

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