Kirche «von oben» und Kirche «von unten»
05.12.2022

Der folgende Text erschien erstmals als Gastkommentar unter dem Titel «Kirche «von oben» und Kirche «von unten»» in der NZZ am 26. September 2022.

 

Gründet die Kirche auf bindende Bekenntnisse, oder ist sie eine Institution, die demokratisch verfasst sein soll und ihre Bekenntnisse jeweils neu aushandeln muss? Die christlichen Konfessionen halten unterschiedliche Antworten auf diese Frage bereit.

 

Die reformierte Landeskirche des Kantons Zürich versteht sich als Teil der weltweiten christlichen Kirche, die in verschiedenen katholischen, orthodoxen und protestantischen Ausprägungen existiert, welche unterschiedliche Bekenntnisse hervorgebracht haben. Die Zürcher reformierte Kirche kennt seit 1868 kein verbindliches Bekenntnis mehr. Dieser Entscheid verdankte sich der damaligen Überzeugung, dass die politische Glaubens- und Gewissensfreiheit auch in der Kirche gelten müsse.

 

Die Bekenntnisfreiheit basiert aber auch auf einer grundlegenden theologischen Überlegung: Die reformierten Kirchen gründen auf das Evangelium und nicht auf ein bestimmtes Bekenntnis. Aus diesem Grund sind reformierte Bekenntnisse grundsätzlich revidierbar. Sie haben sich an der Bibel zu messen, die allerdings viele Stimmen in sich vereint. Der biblische Kanon begründet, wie Ernst Käsemann es einmal festgehalten hat, nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielzahl der Konfessionen. Deshalb impliziert und ermöglicht die Bibel unterschiedliche Glaubensbezeugungen.

 

Freiheit zum Bekenntnis

Bekenntnisfreiheit in der reformierten Tradition heisst entsprechend auch nicht Freiheit vom Bekenntnis, sondern Freiheit zum Bekenntnis: Das reformierte Gesangbuch mit seinen liturgischen Texten enthält zum Beispiel ein nach einer indonesischen Vorlage gestaltetes Bekenntnis, das für die Lebendigkeit der Artikulation des christlichen Glaubens steht.

 

Dass die Bekenntnisfreiheit der Zürcher Kirche ein treibender Faktor von Kirchenaustritten gewesen sein soll, wie etwa der ehemalige Generalvikar des Bistums Chur, Martin Grichting, in einem Gastbeitrag vermutete (NZZ 13. 8. 22), ist religionssoziologisch nicht erweislich, im Gegenteil unwahrscheinlich: Sie war für viele Mitglieder in den letzten 150 Jahren vielmehr ein wichtiger Grund zu bleiben.

 

Es ist eine Eigenart, kein Fehler des Christentums, dass es in unterschiedlichen Ausprägungen existiert, auch jeweils innerhalb spezifischer Konfessionen. Innerkirchliche Pluralität ist keine Mangelerscheinung. Die Zürcher Kirche des 19. Jahrhunderts kannte die Gegenüberstellung von Liberalen und Positiven, die sich heute zu einem kontinuierlichen Spektrum unterschiedlicher Überzeugungen weiterentwickelt hat, die gegenseitig respektiert werden.

 

Für Reformierte ist die Kirche keine himmlisch legitimierte Institution, sondern eine irdische Diskursgemeinschaft von Menschen, die über die Zufälligkeit und die Endlichkeit ihrer Existenz im Horizont Gottes nachdenken.

 

Als Kirche «von unten» ist sie notwendigerweise demokratisch organisiert. Reformierte Kirchen unterscheiden zwischen Legislative (Kirchensynode) und Exekutive (Kirchenrat) und nehmen für sich nicht in Anspruch, bessere institutionelle Organisationsformen als der Staat zu kennen. Ihre Funktionsträgerinnen und -träger sind demokratisch gewählt und unterstehen Kirchengesetz und Kirchenordnung. Sie sind weder bessere noch schlechtere Menschen als ihre Mitglieder. Im Rahmen des «allgemeinen Priestertums aller Gläubigen» bewegen sich alle in gleicher Nähe und Distanz zu Gott.

 

Die Kirche weiss, dass sich das Wohl einer Gemeinschaft am Wohl ihrer Schwächsten bemisst, und sie setzt sich für diese ein. Die reformierte Kirche versteht sich als diakonische, nicht als bischöfliche Kirche und setzt auch hier einen besonderen Akzent auf das «von unten».

 

Die ökumenische Einheit der Kirchen

Bekenntnisse sind geschichtlich und geografisch bestimmte Artikulationen des Glaubens, die Identität nicht herstellen, sondern abbilden. Sie existieren nur in der Mehrzahl. Christlicher Glaube gründet auf der Pluralität menschlicher Lebenserfahrungen und Glaubensdeutungen.

 

Das Christentum hat deshalb verschiedene Konfessionen unterschiedlich ausgeformt, die Bekenntnisse oder eben auch Bekenntnisfreiheit kennen. Für die Ökumene bedeutet dies: Die Gemeinschaft der christlichen Kirchen ist pluralistisch strukturiert, und dies wird auch so bleiben. Ihre konfessionelle Vielfalt ist kein Skandal, sondern eine unhintergehbare Realität und ein inhaltlicher Gewinn. Die Gesamtkirche ist eine Kirche «von unten», und die reformierten Kirchen leben nach diesem Modell in Freiheit und mit Überzeugung.

 

Christoph Sigrist und Konrad Schmid

Christoph Sigrist ist Pfarrer des Grossmünster Zürich und GMS-Präsident. Konrad Schmid ist Professor für Altes Testament an der Universität Zürich.

 

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