Sans-Papiers
Es gehört zur Strategie der GMS, dass sie sich nicht nur allgemein auf „die Minderheiten“ konzentriert, sondern jeweils für eine gewisse Zeit die spezielle Situation einer der Minderheiten in der Schweiz besonders ins Auge fasst.
Wer sind die «Sans-Papiers»?
Viele meinen:«Das sind diejenigen, die illegal in die Schweiz einreisen, ihren Pass und die übrigen Papiere wegwerfen und dann mit unwahren Geschichten versuchen, als Asylsuchende anerkannt zu werden.» Das stimmt nicht.
Die Sans-Papiers haben durchaus ihre Ausweise, das «Papier», das ihnen fehlt, ist die Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz.
Man unterscheidet primäre Sans-Papiers von sekundären Sans-Papiers.
Primäre Sans-Papiers sind ImmigrantInnen ohne Aufenthaltsbewilligung. Sie sind legal in die Schweiz eingereist z.B. mit einem Touristenvisum, zum Studium, für die Heirat. Nach Ablauf von Visum oder Bewilligung bleiben sie in der Schweiz und versuchen, sich durch Gelegenheitsarbeiten (Haushalt, Garten, Landwirtschaft, Betreuung) durchzubringen. Sie wohnen unangemeldet bei ihren Arbeitgebern, in fremdgemieteten Zimmern oder Wohnungen. Sie meiden die Strasse, denn bei einer Polizeikontrolle würden sie umgehend ausgeschafft. In der Schweiz leben ca. 100’000 – 200’000 Sans-Papiers, viele von ihnen aus Gründen der Sprache in der französischen Schweiz.
Die sekundären Sans-Papiers sind eine ausserordentlich vielfältige Gruppe: etwa abgewiesene Asylsuchende. Sie leben in Notunterkünften, können nicht ausgeschafft werden und erhalten die minimale Nothilfe. 2012 zählte man 14’290 Langzeit-Nothilfebezüger. Andere waren früher Niedergelassene, welche die Aufenthaltsbewilligung aufgrund von Brüchen in ihrer Biografie (Scheidung, Tod des Partners) verloren haben. Schliesslich gehören zu dieser Gruppe auch Jahresaufenthalter oder Saisonniers, die nach Ablauf der Bewilligung nicht ausreisen, sondern sich mit Gelegenheitsarbeiten durchbringen.
Bei Aktionen der Sans-Papiers etwa bei der Besetzung der Predigerkirche in Zürich über Weihnachten und Neujahr 2008/2009 sind oft sowohl primäre wie sekundäre Sans-Papiers beteiligt.
Der Grundwiderspruch im Blick auf die Sans-Papiers liegt darin: Es dürfte sie nicht geben – und doch werden sie hier gebraucht für Arbeiten, die sonst niemand tun will. Davon können sie sich kümmerlich ernähren.
Die prekäre Situation der Sans-Papiers
Sie haben kein Wohnrecht, haben Angst vor Kontrollen, Verhaftung, Ausschaffung. Sie müssen unsichtbar bleiben, da sind Arztbesuche, Spitalaufenthalte oder Beitrittsgesuche in Krankenkassen äusserst heikel. Zwar ist der Schulbesuch der Kinder ohne Meldung an die Polizei zugesichert. Wenn aber die Akten routinemässig an alle Ämter gehen, greift die Polizei doch ein.
Eigeninitiativen von Sans-Papiers
Sans-Papiers sind keine Schmarotzer. Sie verlassen sich nicht einfach auf die zivilgesellschaftlich aufgebauten Beratungsstellen, sondern organisieren sich oft selber. Da Lernen, Bildung, Weiterbildung für sie wichtig ist, haben sie „autonome Schulen“ gegründet: z.B. in Bern, Zürich, Biel, Luzern etc.
Die Autonome Schule Zürich (ASZ) ist ein sprechendes Beispiel. Gegründet 2009 nach der Besetzung der Predigerkirche ist sie in sechs Jahren bereits zwölfmal umgezogen. Mehr als 500 Personen besuchen wöchentlich die ASZ. Über 130 Freiwillige arbeiten im Schulbetrieb. Kostenlose Deutschkurse, die über verschiedene Niveaus führen, sind ein entscheidender Punkt der Schulaktivitäten. Es gibt Mathematik- und Computerkurse, Vorträge, Kinoabende, Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, eine Zeitung etc. Die Lehrkräfte arbeiten ohne Entschädigung.
Rund um die ASZ wird die widersprüchliche Situation der Sans-Papiers besonders deutlich: Es dürfte sie und ihre Schule nicht geben – und gibt sie doch. Ihre Aktivitäten sind nur möglich, dank einem Freiraum, der stillschweigend oder abgesprochener Weise respektiert wird.
Das dringendste Anliegen: Die Autonome Schule Zürich braucht neue Schulräume!
Ende Oktober 2015 muss die ASZ aus ihren Räumen in der Bachmattstrasse in Zürich ausziehen, weil die Besitzerin das Gebäude selber braucht. Leider ist die GMS nicht Immobilienbesitzerin. Aber vielleicht kann eine Leserin, ein Leser dieses Newsletters eine Türe aufstossen? Gesucht sind Räume von insgesamt mindestens 500 m2 Fläche. Nähere Hinweise gibt der beiliegende Flyer der ASZ. Das Sekretariat der GMS (Tel: 058 666 89 66, E-Mail: sekretariat@gra.ch) vermittelt gerne den Kontakt mit dem GMS-Vorstandsmitglied Sadou Bah.
Wer kein Haus hat, aber die ASZ unterstützen möchte, kann dies auch mit einer Spende tun (PCKto: 85-515412-1 mit Vermerk: Für Autonome Schule) oder direkt an die Autonome Schule (PCKto: 46-110-7 oder IBAN: CH83 0839 0030 6112 1000 0)
Besten Dank. Und: Wir werden weiter über die GMS-Arbeit mit den Sans-Papiers berichten.
Sadou Bah und Werner Kramer, September 2015
Verein Züri City Card
Der Verein Züri City Card ist aus dem Projekt «Die ganze Welt in Zürich» der Shedhalle im Winter 2015/16 hervorgegangen. Im Vorstand des Vereins beteiligen sich VertreterInnen von politischen, kirchlichen, kulturellen und öffentlich-rechtlichen Institutionen und verschiedenen NGO’s, weshalb er zivilgesellschaftlich breit abgestützt ist.
Zweck des Vereins ist die Einführung einer City Card für die gesamte Wohnbevölkerung des städtischen Grossraum Zürich. Damit sollen die Rechte und deren Durchsetzung sowie die gesellschaftliche und politische Stellung der InhaberInnen dieser City Card unabhängig von einem geregelten Aufenthaltsstatus gestärkt werden. Der Verein arbeitet mit politischen und sozialen Bewegungen in Zürich und anderen Städten in- und ausserhalb der Schweiz zusammen.
Fischhof-Preis prämiert zwei Politiker:innen und eine Aktivistin
Bei der diesjährigen Verleihung des Fischhof-Preises wurden erstmals drei Persönlichkeiten gleichzeitig für ihren Einsatz gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Die Preisträger:innen sind alt SP-Nationalrat Angelo Barrile, Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller und Theologin Nicola Neider Ammann. Im Gespräch mit Moderator David Karasek reflektierten sie über ihre Arbeit, ihre Motivation sowie ihre Sorgen und Ängste – doch auch über ihre Hoffnungen, die trotz aller Herausforderungen spürbar waren.
Alt Bundesrat Moritz Leuenberger sprach ebenfalls mit David Karasek und fragte selbstkritisch: «Bin ich vielleicht selbst antisemitisch, ohne es zu merken?» Er machte darauf aufmerksam, wie tief Rassismus und Antisemitismus in der Gesellschaft verankert sind und wie selten diese Mechanismen hinterfragt werden. Bewegende Laudationen von SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, alt SIG-Präsident Herbert Winter und alt Grünen-Nationalrätin Cécile Bühlmann würdigten die Leistungen der Preisträger:innen eindrücklich.
Der Fischhof-Preis setzt auch 2024 ein starkes Zeichen gegen Diskriminierungen aller Art und bietet ein Gegennarrativ zu den Stimmen, die behaupten, das «Böse» sei unaufhaltsam. Die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und die GMS Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben den Fischhof-Preis, um denjenigen Personen eine Bühne zu geben, die sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Inklusion einsetzen.
Eine fotografische Rückschau finden Sie hier.
Foto: Alain Picard